Kündigung und Annahmeverzug: Neue Leitplanken des Bundesarbeitsgerichts
Dr. Nils Schramm
Der sperrige Begriff des Annahmeverzugslohnrisikos beschreibt das mögliche worst case-Szenario, das einem Arbeitgeber im Kündigungsschutzverfahren drohen kann: Nicht nur, dass er befürchten muss, der gekündigte Arbeitnehmer werde nach einem jahrelangen Verfahren wieder zur Arbeit erscheinen. Der Arbeitgeber muss auch noch damit rechnen, das für die Dauer des Kündigungsschutzverfahrens aufgelaufene Gehalt nachzuzahlen. Nicht selten veranlasst diese Aussicht die Arbeitgeberseite dazu, den Rechtsstreit gegen Zahlung einer beträchtlichen Abfindung vergleichsweise zu beenden. Die Vermeidung des Annahmeverzugslohnrisikos ist damit ein Faktor, der bei Vorbereitung und Durchführung eines Kündigungsschutzverfahrens sorgfältig zu berücksichtigen ist.
Ausgangspunkt sind insoweit die Regelungen in § 11 KSchG bzw. § 615 S. 2 BGB. Danach muss sich der Arbeitnehmer auf das Arbeitsentgelt, das ihm der Arbeitgeber für die Zeit nach der Entlassung schuldet, das anrechnen lassen, was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Die Frage, was in diesem Zusammenhang unter „böswilligem Unterlassen“ und „zumutbarer Arbeit“ zu verstehen ist, ist in letzter Zeit Gegenstand diverser gerichtlicher Entscheidungen gewesen (vgl. dazu unser Newsletter-Beitrag aus Juli 2023). Nunmehr hat das BAG hierzu in einem Urteil vom 7. Februar 2024 (Az.: 5 AZR 177/23) weitere Leitplanken entwickelt, an denen sich die Praxis fortan zu orientieren hat:
Die Verletzung sozialrechtlicher Handlungspflichten durch den Arbeitnehmer kann ein böswilliges Unterlassen begründen. So hatte das BAG bereits im Jahr 2020 entschieden, dass ein Verstoß gegen die Verpflichtung des Arbeitnehmers, sich innerhalb von drei Tagen nach einer außerordentlichen Kündigung bei der Arbeitsagentur arbeitsuchend zu melden, ein böswilliges Unterlassen begründen kann. Eine weitere sozialrechtliche Pflicht besteht darin, dass der Arbeitnehmer bei der Beendigung seiner Arbeitslosigkeit aktiv mitzuwirken hat. Dies bedeutet aber nicht, dass sich der Arbeitnehmer unermüdlich um eine zumutbare Arbeit kümmern muss. Dies hatte das LAG Berlin-Brandenburg im Jahr 2022 noch anders gesehen und entschieden, dass ein Arbeitnehmer verpflichtet sei, im zeitlichen Umfang einer Vollzeitstelle Bewerbungsbemühungen zu entfalten (vgl. dazu SMK-Newsletter aus Juli 2023). Hat sich ein Arbeitnehmer also nach einer Kündigung bei der Arbeitsagentur arbeitsuchend gemeldet und ist auch deren Vermittlungsangeboten nachgegangen, wird ihm regelmäßig keine böswillige Untätigkeit vorzuwerfen sein. Anders sieht es jedoch aus, wenn der Arbeitnehmer zwar formal seinen Pflichten nachkommt, er aber veranlasst, dass ihm die Arbeitsagentur keine Vermittlungsvorschläge unterbreitet. Im zu entscheidenden Fall hatte der Arbeitnehmer die Arbeitsagentur darüber informiert, er werde einem potentiellen Arbeitgeber bei Bewerbungen – noch vor einem Vorstellungsgespräch – mitteilen, dass ein Gerichtsverfahren mit dem letzten Arbeitgeber laufe und er unbedingt dort weiterarbeiten wolle. Aus diesem Grund hatte die Arbeitsagentur dem Arbeitnehmer keine Stellenangebote unterbreitet. Ein solches Verhalten begründet ein böswilliges Unterlassen und steht einem Annahmeverzugslohn entgegen.
Mehr Klarheit gibt es schließlich auch dazu, was als „zumutbare Arbeit“ anzusehen ist. So hat das BAG klargestellt, dass die in § 140 SGB III geregelten Anforderungen an eine zumutbare Beschäftigung (insb. Höhe des Arbeitsentgelts, Pendelzeiten) bei der Beurteilung der böswilligen Untätigkeit zwar einerseits nicht „eins zu eins“ zu berücksichtigen sind. Andererseits folgt die Unzumutbarkeit einer anderen Tätigkeit nicht allein schon aus einem geringeren Verdienst im Verhältnis zum bisherigen. Eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen muss der Arbeitnehmer allerdings grundsätzlich nicht hinnehmen. Eine Untergrenze dürfte insoweit die Höhe des Arbeitslosengeldes I sein, die der zu erzielende Nettoverdienst bei Aufnahme der neuen Tätigkeit nicht unterschreiten darf.
Ausschließen lässt sich das Annahmeverzugslohnrisiko somit zwar weiterhin nicht, aber das BAG gibt immerhin Anhaltspunkte, wie sich dieses Risiko in der Praxis substantiell reduzieren lässt. So sollte ein Arbeitgeber dem gekündigten Arbeitnehmer weiterhin geeignete Stellenangebote, z.B. aus Zeitungsannoncen oder privaten „Jobportalen“ übermitteln, um ihn auf diese Weise zur Prüfung anderweitiger Beschäftigungsoptionen zu veranlassen. Wie das BAG erneut klargestellt hat, hat sich der Arbeitnehmer auch mit solchen Angeboten auseinanderzusetzen und sich im zumutbaren Rahmen zu bewerben. Im gerichtlichen Verfahren sollte der Arbeitgeber sodann seinen Auskunftsanspruch geltend machen und den Arbeitnehmer dazu auffordern, zu erklären und darzulegen, was er unternommen hat, um einen anderweitigen Verdienst zu erzielen. Fazit: Die prozessuale Lage des Arbeitgebers ist zwar durchaus herausfordernd, aber keineswegs hoffnungslos!