Zeitenwende in der Zeitarbeit? – Die EuGH-Entscheidung zur „Achtung des Gesamtschutzes“ von Leiharbeitnehmern
Dr. Cornelius Lindemann
Der große Schock ist zunächst ausgeblieben: Nachdem im Vorfeld des 15. Dezember 2022 eine Erschütterung im Ausmaß der CGZP-Entscheidung von 2010 – damals war eine Gewerkschaft für tarifunfähig erklärt worden – erwartet wurde, fiel die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zur Zeitarbeit weniger gravierend aus als von vielen befürchtet. Die Zeitarbeitsbranche wurde nicht mit einem Handstreich erledigt – das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) wurde als grundsätzlich unionsrechtskonform eingeschätzt und auch die Tarifverträge der Zeitarbeitsbranche wurden nicht pauschal für unwirksam erklärt. Ein „Gesamtschutz“ soll trotzdem sichergestellt und notfalls von den Arbeitsgerichten überprüft werden.
Aber der Reihe nach:
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Arbeitnehmerüberlassung vorgelegt und wollte insbesondere wissen, wie der „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ nach der Leiharbeitsrichtlinie zu definieren sei – insbesondere in Bezug auf das Arbeitsentgelt. Der EuGH hat diese Frage zwar nicht konkret beantwortet, aber einige Leitplanken aufgestellt, an denen sich die Gerichte orientieren werden. Bei Ungleichbehandlungen durch Tarifverträge in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern[1] müssen demzufolge durch diese Tarifverträge Vorteile gewährt werden, die geeignet sind, die Ungleichbehandlung auszugleichen. Um dies zu überprüfen, hat der EuGH ein Prüfungsschema vorgegeben:
In einem ersten Schritt sind die hypothetischen Bedingungen zu ermitteln, die für einen Arbeitnehmer des Entleihers gelten würden. In einem zweiten Schritt sind die Arbeitsbedingungen mit denen des anwendbaren Tarifvertrages für den Leiharbeitnehmer zu vergleichen. In einem dritten Schritt ist schließlich zu prüfen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Ungleichbehandlung zu neutralisieren.
Im Ergebnis fordert der EuGH danach kein „Equal Pay“, sondern ein „Equal Treatment“ – unionsrechtlich entscheidend ist der Gesamtschutz, nicht die vollständige Gleichstellung in allen Bereichen.
Die Sozialpartner haben bei der Umsetzung dieser Anforderungen grundsätzlich bei Beachtung dieser unionsrechtlichen Grundsätze einen weiten Beurteilungsspielraum. Die zu berücksichtigenden Arbeitsbedingungen sind: die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, andere arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt.
Dies ist nach Auffassung des EuGH durch die Gerichte zu überprüfen, die alles in ihrer Zuständigkeit Liegende zu tun haben, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie sicherzustellen: Für jede Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz sind danach Ausgleichsvorteile zu gewähren, um der Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer nachzukommen. Bemerkenswert ist aber, dass die Prüfung im Einzelfall durchzuführen sein wird. Eine abstrakte Kontrolle der Tarifverträge insgesamt ist nicht gefordert.
Es ist zwar nicht davon auszugehen, dass – zugespitzt ausgedrückt – ein Lohnunterschied von 50% durch einen einzigen Urlaubstag ausgeglichen werden kann. Entscheidendere Ausgleichsleistungen wird man aber zu berücksichtigen haben. Ein wesentlicher Vorteil, den der EuGH anmahnt, ist im deutschen Recht auch bereits verankert: Jedenfalls die Bezahlung der Leiharbeitnehmer in verleihfreien Zeiten wird in die Gesamtbewertung einfließen müssen.
Der EuGH hat darauf verzichtet, dem BAG konkrete Kriterien vorzugeben, wie ein Ausgleich zulässig wäre. Bei befristet Beschäftigten müsse der Schutz aber mindestens das gleiche Niveau haben wie der, der Leiharbeitnehmern mit einem unbefristeten Vertrag gewährt wird. Dies wird durch die Tarifwerke BAP und iGZ aber bereits sichergestellt, die hier nicht differenzieren und die Arbeitszeiten bereits jetzt mit denen beim Entleiher synchronisieren.
Ein Tätigwerden des Gesetzgebers ist weder durch den EuGH gefordert noch aktuell absehbar. Es ist nun Sache des vorlegenden BAG, die Vorgaben des EuGH in seiner Entscheidung umzusetzen. Am 31. Mai 2023 ist der Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Es besteht Grund zur Hoffnung, dass die Entscheidung nicht auf eine Tarifzensur durch die Gerichte hinauslaufen wird, sondern der Beurteilungsspielraum der Sozialpartner respektiert werden wird. Das BAG hat es in der Hand, die Vorgaben des EuGH mit konkreten Inhalten zu füllen, sollte sich aber auf eine Missbrauchskontrolle beschränken, um sowohl Leiharbeitnehmern als auch Unternehmen die nötige Planungssicherheit zu geben.
[1] Aus Gründen der Lesbarkeit umfasst die männliche Form in diesem Newsletter stets alle Geschlechter (m/w/d).