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Wer zu spät kommt… Schadensersatzansprüche bei verspäteter Zielvorgabe


Ausgabe Juli 2024
Geschrieben von

Dr. Cornelius Lindemann

Vereinbarungen über variable Vergütungsbestandteile können unterschiedlich ausgestaltet sein. In vielen Fällen hängt die variable Vergütung davon ab, dass ein Arbeitnehmer bestimmte Ziele erreicht. Durch Zielvorgaben werden Leistungsziele – anders als bei Zielvereinbarungen – vom Arbeitgeber festgelegt. Nur bei einer rechtzeitig mitgeteilten Zielvorgabe können Arbeitnehmer also erkennen, welche Leistungen für einen möglichst hohen Bonus von ihnen erwartet werden. Aber was ist die Folge, wenn eine Zielvorgabe entweder überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig erfolgt? Und wann ist eine Zielvorgabe nicht mehr rechtzeitig?

Sowohl das LAG Köln (Urteil v. 6.2.2024 – 4 Sa 390/23) als auch das LAG Nürnberg (Urteil v. 24.4.2024 – 2 Sa 293/23) hatten in diesem Jahr bereits Gelegenheit, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.

In beiden Fällen stritten die Parteien um Schadensersatz aufgrund einer verspätet erfolgten Zielvorgabe bzw. um entgangene Bonuszahlungen, da die zu erreichenden Ziele entweder gar nicht oder erst im letzten Quartal des Geschäftsjahres mitgeteilt wurden. Nach Auffassung beider Gerichte kann ein Schadensersatzanspruch in Höhe des vollen Bonus bestehen, wenn eine Zielvorgabe entgegen einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung nicht oder zu einem so späten Zeitpunkt erfolgt, dass ihr keinerlei sinnvolle Anreizfunktion mehr zukommen kann – und zwar unabhängig davon, ob es sich um persönliche oder unternehmensbezogene Ziele handelt.

Bis du den genannten Entscheidungen war nicht geklärt, welche Konsequenzen drohen, wenn eine Zielvorgabe entweder überhaupt nicht oder zwar spät, aber noch innerhalb des Bemessungszeitraumes erfolgt. Hierzu haben die Landesarbeitsgerichte nun eindeutig Stellung genommen: In beiden Fällen sind die Zielvorgaben nicht durch Urteil nach § 315 Abs. 3 BGB festzulegen, sondern es ist dem Arbeitnehmer unmöglich geworden, die Zielvorgaben noch zu erfüllen, und Arbeitgeber schulden daher Schadensersatz. Dabei gehen die Gerichte davon aus, dass eine Zielvorgabe im Allgemeinen dann zu spät erfolgt ist, wenn sie nicht mehr die beabsichtigte Anreizwirkung erreichen kann – mit anderen Worten: wenn die betroffenen Arbeitnehmer nicht aufgrund einer bestimmten Vorgabe besondere Anstrengungen unternehmen können, um ihre Leistungen zu verbessern, oder sich nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel konzentrieren können. Wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, kommt wie oft auf die besonderen Umstände des Einzelfalles an. Nach Auffassung beider Gerichte ist eine Zielvorgabe jedenfalls nach Ablauf von 3/4 des Bemessungszeitraums als zu spät anzusehen, da dann keine hinreichende Zeit bestehe, die vorgegebenen Jahresziele effektiv zu verfolgen.

Ist die Zielvorgabe nicht oder zu spät erfolgt, nehmen die Gerichte eine sogenannte abstrakte Schadensberechnung vor: Es wird also fiktiv unterstellt, dass die Ziele vollständig erreicht wurden, wenn nicht besondere Umstände diese Annahme ausschließen. Solche besonderen Umstände wären durch den Arbeitgeber darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, was in der Praxis selten gelingen dürfte. Auf ein Mitverschulden des Arbeitnehmers kann sich ein Arbeitgeber bei einer einseitigen Zielvorgabe anders als bei einer unterbliebenen Zielvereinbarung nicht berufen. Es droht also bei einer Verspätung ein Bonusanspruch in voller Höhe.

Dass eine verspätete (einseitige) Zielvorgabe zu Lasten des Arbeitgebers beurteilt wird, ist naheliegend, da eine Zielvorgabe Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren und keine freie Festlegung des Gehalts durch den Arbeitgeber ermöglichen soll. Eine solche Motivation muss rechtzeitig erfolgen. Die Gerichte nehmen dabei nach 3/4 des Bonuszeitraums wegen Unmöglichkeit eine fiktive hundertprozentige Bonuserreichung an. Ob dies auch für den Zeitraum nach Mitteilung der Zielvorgabe gelten kann, wenn bei der Zielvorgabe in angemessener Weise berücksichtigt wird, dass die Mitteilung verspätet erfolgt und dem Mitarbeiter zur Zielerreichung nur wenig Zeit verbleibt, ist aus unserer Sicht offen.

Unabhängig von den ausstehenden Entscheidungen des BAG über die gegen beide Urteile eingelegten Revisionen (Az. 10 AZR 114/24 bzw. 10 AZR 57/24) sollten Zielvorgaben rechtzeitig den Arbeitnehmern mitgeteilt werden. Wann eine Zielvorgabe in diesem Sinne „rechtzeitig“ ist, dazu lassen sich den Entscheidungen Anhaltspunkte entnehmen: Neben vertraglich vereinbarten Fristen für die Zielvorgaben wird es entscheidend darauf ankommen, dass die Zielvorgabe ihre Anreizfunktion noch sinnvoll erfüllen kann. Mitarbeitern muss Zeit bleiben, die Ziele effektiv zu verfolgen. Feste zeitliche Grenzen für die „Rechtzeitigkeit“ sind daher nicht in Sicht. Wie so oft wird man im konkreten Einzelfall anhand der jeweiligen Zielvorgaben entscheiden müssen, bis wann eine Zielvorgabe noch rechtzeitig erfolgen kann. Um Unsicherheiten zu vermeiden, sollte ein fester Prozess etabliert werden, der sicherstellt, dass Zielvorgaben frühestmöglich und innerhalb etwaiger vertraglicher Fristen mitgeteilt werden.