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Bahnreisen gleich Arbeitszeit?


Ausgabe Juli 2023
Geschrieben von

Dr. Nils Schramm

Entscheidungen aus Erfurt und Luxemburg zum Arbeitszeitrecht halten die Praxis schon seit längerem in Atem. Für neues Aufsehen hat nun das Verwaltungsgericht Lüneburg gesorgt, dass sich mit der Frage zu befassen hatte, ob die Bahnfahrten, die ein Mitarbeiter eines Speditionsunternehmens zu bzw. vom Abholort seines Fahrzeugs unternimmt, Arbeitszeit i.S.d. ArbZG ist.

Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist dies an sich nicht der Fall. Das BAG vertritt hierzu nämlich in ständiger Rechtsprechung die sog. Beanspruchungstheorie: Ist der Mitarbeiter bspw. dazu angehalten, während der Bahnfahrt eine Besprechung vor- bzw. nachzubereiten oder andere Aufgaben zu erledigen, so ist dies als Arbeitszeit im Sinne des § 2 ArbZG einzuordnen. Werden ihm hingegen keine Aufgaben zugewiesen, stellt die Reisezeit in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Arbeitszeit, sondern Ruhezeit dar. Nach der BAG-Rechtsprechung kommt es also letztlich darauf an, ob der Mitarbeiter nach den Vorgaben des Arbeitgebers über seine Zeit während der Reise frei verfügen kann oder nicht. Sobald die Möglichkeit zur Erholung besteht, beginnt die Ruhepause.

Das VG Lüneburg (Urt. v. 2.5.2023 – A 146/22) folgt diesem Begründungsansatz ausdrücklich nicht und meint, sich hierbei auf die europäische Arbeitszeit-Richtlinie stützen zu können. So sei die regelmäßig mehrstündige An- und Abreise mit der Bahn bereits Teil der arbeitsvertraglichen Leistungserbringung und beschränke die Freiheit der Fahrer, über ihre Zeit frei zu bestimmen. Anders als bei der Anreise zu einer festen Betriebsstätte stehe sie somit nicht zur Disposition des Mitarbeiters, sondern sei der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Danach zähle die Bahnreisezeit als Arbeitszeit.

Ob mit dieser Entscheidung, die im Übrigen noch nicht rechtskräftig ist, tatsächlich ein Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung eingeleitet worden ist, erscheint indes zweifelhaft. Die Besonderheit des Sachverhalts lag hier darin, dass der Mitarbeiter auf Anordnung seines Arbeitgebers regelmäßig mehrstündige Bahnreisen zu seinen Fahrzeugen, die an wechselnden Einsatzorten abgestellt waren, zurückzulegen hatte. In einer solchen Konstellation mag in der Tat eine Ausnahme von der sog. Beanspruchungstheorie gerechtfertigt sein. Jedenfalls ist u. E. ein solcher Fall nicht ohne Weiteres vergleichbar mit den in der Praxis typischen Fallkonstellationen, in denen Mitarbeiter gelegentliche Dienstreisen per Bahn zurücklegen.