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Massenentlassungen – Weitreichende Erleichterungen des Verfahrens in Sicht


Ausgabe Januar 2024
Geschrieben von

Dr. Michael Kuhnke

Plant ein Arbeitgeber eine Restrukturierung, hat er meist das Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren der §§ 111 f. BetrVG im Blick. Weniger Aufmerksamkeit wird in der Regel dem – übrigens auch in betriebsratslosen Betrieben – einzuhaltenden sog. Massenentlassungsverfahren des § 17 KSchG geschenkt. Dabei ist der Begriff „Massenentlassung“ etwas irreführend, denn eine solche kann schon dann vorliegen, wenn in einem Betrieb mit 21 Arbeitnehmern die Arbeitsverhältnisse von sechs Arbeitnehmern beendet werden sollen, wobei hier auch Aufhebungsverträge mitzählen.

Ebenso irreführend ist der Umstand, dass sich im Gesetz an keiner Stelle ein Hinweis darauf findet, dass ein Fehler im Verfahren – wie von der Rechtsprechung bislang angenommen – zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt, was also durchaus verhängnisvoll für den Erfolg der Restrukturierung sein kann. Diese einschneidende Folge wie auch weitere teils dramatische Verschärfungen der gesetzlichen Vorgaben durch die Rechtsprechung der letzten Jahre – hier sei nur an die bekannte „Air-Berlin-Entscheidung“ des Bundesarbeitsgerichts erinnert – führten dazu, dass sich die korrekte Durchführung des Verfahrens zu einem kaum noch nachvollziehbaren bürokratischen Monstrum entwickelt hatte. So war es gerade bei Konzernen mit mehreren Standorten und ggf. auch Gemeinschaftsbetrieben erforderlich, vorsorglich gleich mehrere parallele Unterrichtungen und Anzeigen mit jeweils mehreren Varianten vorzunehmen, um alle möglichen Auslegungsvarianten und Zuständigkeiten abzudecken und das drohende Risiko unwirksamer Kündigungen abzuwenden. Mit dem eigentlichen Zweck des Gesetzes, sicherzustellen, dass etwaige Betriebsräte unterrichtet werden und die Agentur für Arbeit darauf vorbereitet ist, dass in naher Zukunft eine größere Zahl von Arbeitnehmern auf den Arbeitsmarkt drängen wird, hatte dies kaum noch etwas zu tun.

Dies haben nun wohl auch der EuGH und das BAG eingesehen, da sich in der Rechtsprechung beider Gerichte seit gut einem Jahr ein Richtungswechsel abzeichnet. Angefangen hat dies mit einer Entscheidung des BAG vom 19. Mai 2022 (2 AZR 467/21) wonach das Fehlen der sog. Soll-Angaben (Angaben zum Alter, Geschlecht, Beruf und Nationalität der betroffenen Arbeitnehmer) in der Massenentlassungsanzeige nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt. Man hätte vermutet, dass sich dies schon aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt, das nicht umsonst zwischen „muss“ und „soll“ differenziert, aber gesichert war dies tatsächlich leider nicht; das LAG Hessen als Vorinstanz hatte dies anders gesehen. Die nächste – wenn auch nur kleine – Erleichterung folgte dann mit der Entscheidung des BAG vom 8. November 2022 (6 AZR 15/22), wonach die versäumte Übermittlung der Abschrift der Massenentlassungsanzeige an den Betriebsrat (der im Übrigen ohnehin schon zuvor unterrichtet und angehört wurde) nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.

Nun kündigt sich allerdings erfreulicherweise eine grundlegende Kehrtwende des BAG an: Das BAG hat am 14. Dezember 2023 (6 AZR 157/22 (B)) mitgeteilt, dass es beabsichtige, seine bisherige Rechtsprechung, wonach Fehler im Massenentlassungsverfahren zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen, insgesamt aufzugeben. Vorausgegangen war eine Entscheidung des EuGH (13. Juli 2023 (C‑134/22)), in der dieser unter Verweis auf den oben erwähnten Zweck der zugrundeliegenden Richtlinie feststellte, dass diese keine individualschützende Wirkung habe. Da der zuständige 6. Senat des BAG damit von der bisherigen Rechtsprechung des zuvor zuständigen 2. Senats abweicht, muss Letzterer hierzu auch noch Stellung nehmen. Aufgrund der bisherigen Entwicklung sind wir allerdings zuversichtlich, dass die angekündigte Rechtsprechungsänderung Bestand haben wird, was in der Praxis zu einer ungeahnt weitreichenden Erleichterung und Entbürokratisierung führen wird.